Marion

24 Juni 2025

2016 hatte ich das große Vergnügen, im Dattelner KATiELLi Theater das herrlich bekloppte Musical „Festgepoppt“ zu spielen. Immer öfter fiel mir, wenn ich nach der Show nach draußen vors Theater ging, eine Frau auf, die etwas abseits stand, immer rauchend, manchmal in Begleitung von Freunden, manchmal allein. Wir kamen ins Gespräch. Und das immer öfter, denn es gab kaum eine Vorstellung, nach der sie nicht vorm Theater stand, rauchte und auf uns Mitwirkende wartete. Um ein wenig zu quatschen, um zu sagen, wie gut es ihr mal wieder gefallen habe. So lernte ich Marion kennen.
Ich war nie jemand, der an der Stage Door bewusst den Kontakt sucht (die meisten Fans warten eh nicht auf meine Musikerkollegen oder mich, sondern auf die Stars). Aber wenn mich jemand ansprach, habe ich mich immer bemüht, freundlich und zugänglich zu sein, auch wenn ich noch so müde sein mochte. Marion mag zwar als Fan angefangen haben, aber schnell wurde daraus eine Freundschaft. Vielleicht ab dem Tag, wo sie das gesamte Theater-Team nach der vorläufigen Derniere von „Festgepoppt“ mal eben zum Essen einlud, spätestens aber im Spätsommer 2018, als sie mich bat, die Beerdigung ihrer Mutter musikalisch zu begleiten.
Danach trafen wir uns zum ersten Mal privat – sie, ihr damaliger bester Freund und regelmäßiger Zu-unzähligen-Musicalbesuchen-Begleiter, meine Frau, meine Hunde und ich. Aus dem einen Mal wurde ein immer intensiverer Kontakt. Die gemeinsame Leidenschaft, Theater, Musik, Musical, hatte ein paar gleichermaßen Bekloppte zusammengeführt. Bald trafen wir uns regelmäßig zum Essen (gern bei uns, erstens weil ich gern koche, zweitens weil unsere Hunde Marions Krabbel-Einheiten immer besonders liebten), besuchten wir gemeinsam Musicals und Konzerte. Und (fast) immer, wenn ich in irgendeinem Zusammenhang auf einer Bühne stand, war Marion da. Sie besorgte sich alle meine CDs, kam zu allen meinen Konzerten, war bei allen meinen Musicals dabei.
Dann kam Corona. Meiner Frau und mir wurde von heute auf morgen der existenzielle Boden unter den Füßen weggezogen. Marion half. Umstandslos. Einfach so. Unter Freunden. Als ich ein paar Jahre später zu einem Konzert musste, meine Frau aber unser einziges Auto ebenfalls für die Arbeit brauchte, bot Marion kurzerhand an, mich zu fahren, da sie das Konzert sowieso sehen wolle. Daraus wurde schnell eine Tradition; dass ich bei folgenden Terminen selber fahren könne, wollte sie gar nicht hören. Wir beide freuten uns auf diese Fahrten zu diversen Zielen, auf denen wir lange und intensive Gespräche führten.
Während eines dieser Gespräche fragte ich sie, wie ich ihr all das Gute, dass sie uns getan habe, jemals zurückgeben könne. Sie meinte nur, das hätte ich schon längst getan. Durch meine Arbeit, durch die Konzerte und Theatervorstellungen. (Wie wohltuend, das zu hören, nachdem die Politik uns Künstler während der Pandemie ja als „nicht systemrelevant“ abgestempelt hatte. Jeder Mensch trägt sein Päckchen, seine Verletzungen mit sich herum, und manchmal können wir mit Theater und Musik dazu beitragen, Dinge zu verarbeiten, Wunden zu heilen oder zumindest eine Weile abzulenken und für positive Erlebnisse zu sorgen.) Als enge Freundin war es selbstverständlich, dass sie die Entstehung eines Musicals oder eines Studioalbums aus nächster Nähe mitverfolgen konnte. Dass sie bei Proben vorbeischauen, uns backstage besuchen oder beim gemeinsamen Essen nach der Show dabeisein konnte. Auch das bedeutete ihr viel. Das hat mir nochmal einen anderen Blick auf unseren Beruf gegeben: Dass Dinge, die wir Künstler und Musiker für selbstverständlich erachten, für viele Menschen etwas ganz Besonderes sind. Dass wir für viele Menschen, denen es vielleicht nicht so gut geht, wichtige positive Inseln in ihrem Leben darstellen. Dass wir, wie Marion es einmal ausdrückte, „ihre Form der Therapie“ sind.
Auf einer anderen unserer langen Autobahnfahrten bat Marion mich einmal, ihr Gesangsunterricht zu geben. Nachdem ihr einmal jemand gesagt hätte, sie könne nicht singen, traue sie sich nun nicht mehr, ihre Stimme zu erheben. Dabei wolle sie nur einmal für ihr Patenkind lauthals „Happy Birthday“ singen können. Bei unserer ersten „Gesangsstunde“ sangen wir gar nicht. Wir redeten nur (okay, und aßen gut). Bei der zweiten entlockte ich ihr ein paar Töne. Mit jeder weiteren Stunde traute sie sich mehr. In diesem Frühjahr saß sie schräg hinter mir bei einem Konzert im Schloss Benkhausen, und während „Ich war noch niemals in New York“ hörte ich plötzlich ihre Stimme hinter mir, laut und deutlich. Ich freute mich riesig.
Am 4. Juni ist Marion abends ganz normal schlafen gegangen. Am 5. Juni ist sie morgens nicht mehr aufgewacht. Einfach so. Vor einer Woche haben wir sie begraben. Heute wäre ihr 54. Geburtstag gewesen. Heute erhebe ich das Glas mit einem ihrer heißgeliebten Caipirinhas auf Marion, einen wunderbaren, warmherzigen, großzügigen, freundlichen Menschen. Ich werde Dir immer dankbar sein für das, was Du für meine Familie getan hast. Ich werde zugleich froh sein, dass ich Dir mit meiner Arbeit so viel Freude schenken konnte, dass ich Dir Deine Stimme wiedergeben konnte. Ich werde immer mit einem Lächeln an Dich denken müssen, wenn ich für Gäste koche und die Dir verhassten Champignons im Rezept stehen. Und bei jedem künftigen Konzert, jeder kommenden Theatervorstellung wirst Du dabei sein. Davon bin ich überzeugt. Danke für alles, Marion!

Update

09 Januar 2023

Alle Jahre wieder wundere ich mich an dieser Stelle, dass ich in den vergangenen zwölf Monaten so wenig gepostet habe. Tatsächlich ist es diesmal beinahe ein ganzes Jahr her, seit ich den letzten Blogeintrag verfasst habe. Dabei hätte es viel zu berichten gegeben: Dirk Schattner und ich, wir zwei Wahnsinnigen, haben 2022 gleich zwei neue Musicals auf den Weg gebracht. Zunächst im Februar "Gezeitenwende" mit mehreren Readings in Hamburg, dann, ausgehend von einem Wettbewerb der Deutschen Musical Akademie in Zusammenarbeit mit der Stadt Marburg, im November "Schatten. Risse." in einer Reihe von Workshop-Präsentationen in der Waggonhalle Marburg. Parallel dazu habe ich an anderen, kleineren Projekten gearbeitet und mich sogar mal wieder, nach langer Zeit, an das instrumentale Komponieren für Orchester herangetastet. Endlich, nach über zwei Jahren, durften auch wieder Konzerte in halbwegs "normalem" Umfang stattfinden, so dass wir u.a. im Sommer beim Szeniale-Festival die Live-Premiere meines Albums "Lebenswert" nachholen konnten. Nach längerer Pause habe ich zudem vereinzelt auch wieder Musicalkonzerte als Bandleader gespielt.
Es lag also keinesfalls an mangelnder Aktivität, dass es hier so still ist. Eher schon an mangelnder Zeit (wie üblich). Und teilweise auch an schwindendem Mitteilungsbedürfnis, sowohl was diesen Blog als auch meine Seiten in den sozialen Medien betrifft. Wie oft habe ich mir vorgenommen, jetzt aber mal zu diesem oder jenem Thema etwas zu schreiben, dann aber ein paar Nächte darüber geschlafen und mich zunehmend gefragt: Wen interessiert es überhaupt, was ich zu sagen habe, wer liest das alles in einer Zeit der ultrakurzen Aufmerksamkeitsspannen und vor allem - wen geht meine Meinung etwas an? Je älter ich werde, umso mehr stelle ich fest, dass es mich selbst nervt, dass jeder seine Meinung zu jedem Thema, gleich ob fundiert oder nicht, öffentlich und lautstark kundtun muss. Auch ich war immer eher ein lauter Mensch, ich habe auch massiv öffentlich etwa gegen das desaströse Vorgehen der Regierung bei den Corona-Hilfsmaßnahmen für Künstler protestiert wie so viele Kolleg*innen, gebracht hat es nachweislich natürlich nichts. Ich kann mich immer noch über viele Dinge aufregen, aber ich muss das nicht mehr in jedem Fall öffentlich tun.
Ich mag noch nicht einmal mehr den Zustand unserer Branche beklagen, die nach den Pandemiejahren immer noch darum kämpft, wieder auf die Beine zu kommen. Die Kaufkraft des Publikums ist ebenso geschwunden wie das Vertrauen, Konzertkarten im Vorverkauf zu erwerben. Sogar große Acts mussten in den vergangenen Monaten verstärkt Auftritte und Tourneen absagen, weil schlicht und einfach nicht genügend Tickets für eine profitable Veranstaltungsdurchführung verkauft wurden. Und das liegt, wenn man sich umhört, noch nicht einmal daran, dass die Menschen sich vor der Ansteckungsgefahr fürchten (ich selbst habe 2022 verschiedenste Konzerte aller Größenordnungen besucht, mich selbst nicht angesteckt und auch nicht gehört, dass eine dieser Veranstaltungen ein "Multispreader-Event" gewesen wäre), sondern dass sie einfach keine Lust mehr haben, Karten zu erwerben für Konzerte, die dann eventuell doch wieder abgesagt werden. Hier wurde viel Vertrauen verspielt und viel Porzellan zerschlagen, und es wird noch lange dauern (wenn überhaupt), bis wir wieder auf einem Vor-Corona-Niveau angekommen sind.
Die existenziellen Sorgen in unserer Branche werden also nicht weniger und wurden durch den brutalen russischen Angriffskrieg in der Ukraine und dessen wirtschaftliche Folgen nochmals verschärft. Angesichts des Leids der Menschen dort mag man überhaupt nicht über die eigene Situation jammern - angesichts dieser völlig neuen Weltlage, wieder der Möglichkeit von Kriegen mitten in Europa ins Auge sehen zu müssen, erscheint das Problem, ob man im nächsten Monat noch seine Miete bezahlen kann, tatsächlich eher vernachlässigbar. Ich frage mich mehr und mehr, was für eine Welt wir unseren Kindern hier hinterlassen und warum Menschen einfach nicht aus den Fehlern der Vergangenheit lernen wollen.
Auch wenn die Aussichten noch so trüb scheinen, will ich mir jedoch meinen Optimismus so gut es geht bewahren. Auch dieses Jahr wird wieder spannende Projekte und neue Aufgaben mit sich bringen. Und wenn die Welt da draußen mal wieder völlig verrückt spielt, lasst uns an den vermeintlich kleinen Dingen festhalten, die das Leben reich und schön machen: Familie, Natur, Freunde, gutes Essen - und natürlich immer wieder die Musik. In diesem Sinne freue ich mich auch 2023 auf viele musikalische Begegnungen und wünsche allen Lesern dieser Seite alles erdenklich Gute - möge das neue Jahr Glück, Freude und vor allem Frieden bringen. Imagine...

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